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Kleidung als Vitalmessgerät

Bei der Kontrolle bestimmter Vitalfunktionen ist eine möglichst engmaschige Überwachung unerlässlich. Daher entwickeln verschiedene Forschergruppen derzeit Kleidungsstücke, die in der Lage sind, Lungengeräusche oder Herzrhythmusstörungen zu erfassen. Die Ergebnisse sind vielversprechend.
08.11.2022

Die eigene Gesundheit und Fitness mit Hilfe des Smartphones oder Wearables selbst zu überwachen wird immer beliebter. Gesundheits-Apps sind für viele Ansporn sich mehr zu bewegen, unterstützen bei der regelmäßigen Einnahme von Medikamenten und liefern nützliche Informationen, etwa zu Ernährungsthemen. Bereits im Jahr 2017 verwendete fast jeder zweite Smartphone-Nutzer Gesundheits-Apps, weltweit hatte diese Sparte laut des Statistischen Bundesamtes ein Marktvolumen von rund 2,4 Milliarden US-Dollar. Bis zum Jahr 2025 könnte das Marktvolumen sogar auf rund 11,2 Milliarden US-Dollar anwachsen. Auch bei den Wearables, also Minicomputer wie Smartwatches und Fitness-Tracker, hat sich seit 2014 der weltweite Absatz mehr als verzehnfacht, bereits im Jahr 2020 betrug er rund 445 Millionen abgesetzte Einheiten.

Smarte Textilien

Die große Mehrheit jener Smart Devices, die mittlerweile zum täglichen Begleiter vieler Menschen geworden sind, sind eher nicht für eine medizinische Anwendung geeignet. Deren ausgeklügelte Elektronik bieten allerdings für die medizinische Zwecke immer mehr Möglichkeiten. Derzeit sind verschiedenen Forschungsgruppen dabei, diese Technik in jenen Gegenständen einzusetzen, die noch näher an Patienten sind als Smartphones und Fitnessarmbänder: die Kleidung. Diese smarten Textilien gehören zur Gruppe der sogenannten Clinical Grade Wearables und bieten einen entscheidenden Vorteil: da Patienten sie ohnehin tragen, können sie nicht vergessen werden und bieten daher die Möglichkeit einer engmaschigeren und ständigen Kontrolle des jeweiligen Gesundheitszustandes.

Das Fraunhofer-Clusterprojekt „M³ Infekt“ ist derzeit dabei, mehrere solcher smarten Textilien zu entwickeln. Unter der Federführung des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS in Dresden sind neben zehn Fraunhofer-Instituten auch das Klinikum Magdeburg, die Charité – Universitätsmedizin Berlin sowie die Universitätskliniken Erlangen und Dresden als medizinische Partner eingebunden.

Eines dieser Projekte ist „Pneumo.Vest“, für das Forschende am Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme IKTS eine Technologie entwickelt haben, bei der Akustiksensoren in einer Textilweste die Lungengeräusche erfassen können. Die intelligente Weste soll bei Patienten mit schweren Atemwegs- oder Lungenerkrankungen zum Einsatz kommen und stellt laut den Entwicklern zukünftig eine leistungsfähige Ergänzung zum klassischen Stethoskop dar, mit dem Pneumologen seit jeher Herztöne und Lungengeräusche ihrer Patienten abhören.

Die Technik dahinter basiert auf Piezokeramik: „Wenn sich die Piezokeramik verformt, wird eine Spannung erzeugt. Und diese Spannungsänderung ist messbar. In der Weste sind im Prinzip also viele kleine Stethoskope verbaut, die rund um den Thorax des Patienten angeordnet sind. Damit haben wir die Möglichkeit, an vielen unterschiedlichen Positionen des Brustkorbs Atemgeräusche und Lungengeräusche aufzunehmen“, so Ralf Schallert, Gruppenleiter für Charakterisierungsverfahren am IKTS. Die Weste besteht aus Baumwolle, da sie waschbar, atmungsaktiv und gut tragbar sein muss. Die darin eingearbeitete Sensorelektronik lässt sich abnehmen und desinfizieren, sodass die Hygieneanforderungen gewährleistet sind.

Visualisierung aller Areale des Thorax

Obwohl sich deren Elektronik auch per Batterie betreiben lässt, ist die „Pneumo. Vest“ in ihrer ersten Ausbaustufe zunächst für bettlägerige Beatmungspatienten konzipiert, deren Sensorik wird dabei per Kabel mit Strom versorgt und an einem PC ausgewertet und dargestellt. Im Gegensatz zum klassischen Stethoskop macht die Weste die Geräuschkulisse der Lunge aber nicht nur hörbar, sondern ist mit einer eigens entwickelten Künstlichen Intelligenz versehen. Sie bietet den behandelnden Pneumologen neben einer Vorauswahl jener Geräusche, die es näher zu diagnostizieren gilt, auch eine Visualisierung aller Areale des Thorax. „Die Sensorik registriert also rund um den Thorax jedes noch so leise Geräusch, das die Lunge produziert. Die Software nimmt diese Signale auf und gibt sie elektrisch verstärkt aus. Zusätzlich erscheint eine visuelle Darstellung der Messpunkte der Lunge auf einem Display. Da die Software die Position jedes einzelnen Sensors kennt, platziert sie dessen Daten gleich an der entsprechenden Stelle. So entsteht ein detailreiches akustisches wie optisches Szenario der Belüftungssituation aller Lungenbereiche“, erläutert Ralf Schallert.

Kontinuierliche Überwachung der Lungenfunktion

Das bietet Pneumologen eine genauere und punktuellere Diagnose der Lunge. „Die Pneumo.Vest soll das Stethoskop nicht überflüssig machen und ist auch kein Ersatz für die Fähigkeiten erfahrener Pneumologen. Doch eine Auskultation oder auch ein Lungen-CT stellen immer nur eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt der Untersuchung dar. Der Mehrwert unserer Technik besteht darin, dass sie die kontinuierliche Überwachung der Lunge erlaubt, und zwar auch dann, wenn der Patient oder die Patientin nicht an Geräten auf der Intensivstation angeschlossen, sondern auf der Normalstation untergebracht ist“, betont Ralf Schallert. Für die bettlägerigen Patienten, die für eine klassische Stethoskopie in die stabile Seitenlage bewegt werden müssen, ist die Methode der Pneumo Vest ebenfalls angenehmer. Die Ärzteschaft wird entlastet, weil sie ihre Patienten nicht stethoskopieren müssen, sondern die Messergebnisse am Computer diagnostizieren können. Und Kliniken können damit ihre Intensivstationen entlasten, da die Weste auf Normalstationen genauso funktioniert.

Im Idealfall könnten Beatmungspatienten sogar zuhause bleiben – die Lunge wird trotzdem fortlaufend kontrolliert und eine plötzlich eintretende Verschlechterung sofort an das medizinische Personal gemeldet. Nicht zuletzt könnte die Weste auch in Schlaflaboren, Pflegeeinrichtungen oder zur Schulung angehender Pneumologen zum Einsatz kommen. Dementsprechend groß ist das Interesse an der Weste. „Pneumo.Vest adressiert genau das, was wir brauchen. Wir bekommen damit ein Instrument, das die Diagnosemöglichkeiten erweitert, unser Klinikpersonal entlastet und den Klinikaufenthalt für die Patientinnen und Patienten angenehmer gestaltet“, unterstreicht Dr. Alexander Uhrig, Spezialist für Infektiologie und Pneumologie von der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Bis zur Marktreife dürften laut Ralf Schallert allerdings noch drei bis fünf Jahre vergehen. „Das Schöne an dem Projekt ist aber, dass man bereits mit den Zwischenprodukten arbeiten kann. Wenn man nur die klassische Messung der Atemgeräusche sieht – dazu braucht ein Arzt etwa eine Viertelstunde, die Weste kann ihm das für eine Vielzahl der Auskultationspunkte bereits nach rund drei Minuten liefern.“

 

Textiles EKG-System

Ein weiteres Beispiel in Sachen Clinical Grade Wearables bietet das Projekt „ CardioTEXTIL“, das derzeit vom Fraunhofer Instituts für Integrierte Schaltungen (IIS) entwickelt wird. Auch dieses Kleidungsstück – ein sogenanntes Holster – ist in der Lage, medizinische Daten rund um die Uhr zu erfassen. Die Zielgruppe sind hier Patienten mit kardiovaskulären Veränderung und koronaren Herzkrankheiten. Das textile Gurtsystem besteht dabei aus einem wachbaren, atmungsaktiven Polymergewebe. An dessen Innenseite sind Trockenelektroden und Signalleitungen eingearbeitet, die auf dem Brustkorb aufliegen. Diese nehmen drei EKG-Kanäle auf und leiten die Messdaten an eine auf der Außenseite angesteckte Elektronik weiter. Sie berechnet dann Parameter wie die Herzfrequenz, die Herzratenvariabilität und kann seltene Ereignisse wie Arrhythmien zuverlässig erkennen.

Engmaschiges Patientenmonitoring

Auch hier besteht der entscheidende Vorteil darin, die Herzschlagfrequenzen permanent überwachen zu können, ohne dass ärztliches Personal diese Messung durchführen muss. Bei Herzrhythmusstörungen schlägt das Herz unregelmäßig und oft so schnell, dass es weniger Blut in den Körper pumpt. Ganze zwei Millionen Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind derzeit von Herzrhythmusstörungen betroffen, laut des Fraunhofer IIS wird sich das in den kommenden 50 Jahren verdoppeln. Das Problem bei der Vorhersage ist allerdings, dass jene Herzrhythmusstörungen oft unregelmäßig auftreten. Deren Diagnose wird typischerweise mit Hilfe eines 24-Stunden EKGs (Holter EKG) gemacht – wozu dem Patienten einzelne Streifen mit Elektroden auf den Brustkorb geklebt werden. Die Auswertung der erfassten Daten wird entweder vor Ort in der Praxis oder aber mit Hilfe tragbarer Elektronik aufgezeichnet.

Das Tragen ist allerdings sehr lästig, zumal die aufgeklebten Elektroden nicht unbedingt gut halten und ein Verrutschen zu ungenauen Ergebnissen führt. Sollte die Herzrhythmusstörung aber auftreten, wenn das 24 Stunden EKG nicht getragen wird, kann sie nicht erfasst werden. Die einzige Möglichkeit, Patienten wirklich rund um die Uhr zu überwachen, sind implantierbare Loop Recorder. „Das CardioTEXTIL schließt die Lücke zwischen dem klassischen Holter-EKG mit Klebeelektroden und dem implantierbaren Loop-Recorder“, unterstreicht Dr. Christian Münzenmayer, Abteilungsleiter Digital Health Systems des Fraunhofer IIS. Grundsätzlich biete sich das System aber nicht nur für das Patientenmonitoring, sondern auch für die Bereiche Schlafscreening oder zur Leistungsdiagnostik im professionellen Sport an.

Beobachtung der Herzfunktion im Alltag

Dank der drahtlosen Übertragung der erfassten Messwerte via Bluetooth an ein Smartphone eignet sich die Weste für eine kontinuierliche Beobachtung der Herzfunktion im Alltag – und zwar ohne dass dafür Messelektroden auf die Haut aufgeklebt oder implantiert werden müssten. Die Weste selbst besitzt nur einen An- und Ausschaltknopf, ist daher denkbar einfach zu bedienen. „Wenn genügend Arrhythmien innerhalb einer bestimmten Zeit gefunden sind, können die Daten automatisch zum Arzt geschickt werden, der dann die Diagnose stellen kann. Damit müssen Patienten die Weste nicht etwa ein viertel Jahr tragen, sondern können sie ablegen, sobald genügend Events detektiert wurden. Sie bietet vorausgewertete Daten über einen viel längeren Beobachtungszeitraum hinweg, und damit eine sichere Diagnostik. Zudem müssen sowohl Patienten als auch Kardiologen weniger vor-Ort-Termine vereinbaren“, ergänzt Christian Münzenmayer. Das Interesse seitens der Ärzteschaft und Kliniken an der EKG-Weste sei dementsprechend hoch. Allerdings gelte es sich bis zur Marktreife auch hier noch etwa drei bis fünf Jahre zu gedulden.

In Zukunft könnten in solche Smarten Textilien sogar verschiedene Sensoriken zusammengeführt werden, prognostiziert der Experte. Damit wäre man in der Lage, aus etwa der Atmung, dem Herzschlag und aus Hautleitwerten komplexere Krankheitsbilder und Gesundheitszustände ableiten zu können. Auch das ein Kleidungsstück die Möglichkeit hat, etwas anzuzeigen oder darüber eine Eingabe machen zu können, sei durchaus vorstellbar. Man darf also gespannt sein.

Quelle: kma-online vom 08.11.2022